Stressfreies Treiben von Rindern
Low Stress Stockmanship-Methode war Thema von verschiedenen Workshops in Norddeutschland
„Mach langsam – wir haben keine Zeit!“. Mit diesem zunächst widersprüchlich scheinenden Statement begrüßt Ronald Rongen, „Cowmunicator“ (Low Stress Stockmanship Europe), die Zuhörer auf seiner Reise durch Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Insgesamt wurden im Rahmen des Netzwerk Fokus Tierwohl fünf Seminare zum stressfreien Treiben von Rindern durchgeführt.
Stressfreies Treiben durch richtige Körpersprache
Wer Ronald Rongen mit den Tieren arbeiten sieht, der erkennt schnell, dass „langsam machen“ schneller geht. Hektik, Pfeifen, Schreien oder Klatschen bei der Arbeit mit Kühen und Kälbern verursachen Stress und sollten daher vermieden werden. Die menschliche Stimme ist als Steuerungsinstrument ohnehin viel zu unspezifisch und daher ungeeignet. Deutlich besser lässt es sich mit den Kühen durch Körpersprache arbeiten. Jeder sollte durch einen ruhigen und freundlichen Umgang gegenseitiges Vertrauen aufbauen und deutlich machen, wer der Herdenführer ist. Häufig wird Rongen von den Praktikern die Kritik entgegengebracht, dass diese Art des Treibens viel zu viel Zeit koste. Das ist nicht der Fall, wenn mit der Low Stress Stockmanship-Methode bereits bei den Kälbern begonnen wird. Dazu bedarf es nicht mehr Zeit, sondern kann in die anfallenden Routinearbeiten integriert werden. Lernen die Tiere bereits im Kälberalter einen guten Umgang durch den Menschen als Herdenführer, sind bei den ausgewachsenen Tieren keine oder nur wenige weitere Übungseinheiten notwendig. Kinder lernen am besten – so ist es eben auch bei den Tieren. Herr Rongen selbst hat beispielsweise einen Behandlungsstand im Kälberstall integriert. So nehmen die Tiere diesen spielerisch wahr und verlieren die Angst davor. Bekannte Dinge verringern den Stresspegel bei anfallenden Behandlungen erheblich.
Sinneswahrnehmung von Rindern
Wichtig ist es, sich vor der Anwendung der Low Stress Stockmanship-Methode vor Augen zu führen, wie Rinder ihre Umwelt und den Menschen überhaupt wahrnehmen. Dabei half ein Online-Vortrag zum Thema „Die Sinne der Kuh – Missverständnisse und Stress im Stall reduzieren“ mit Benito Weise vom Landwirtschaftlichen Bildungszentrum Echem. So konnten sich die Teilnehmer und auch andere Interessierte im Vorhinein schon intensiver mit der Sinneswahrnehmung von Rindern befassen, bevor es in die Praxis überging (siehe auch Beitrag Sinneswahrnehmung beim Rind). Herr Weise fasste Fakten aus Wissenschaft und aktueller Forschung zum Instinktverhalten und zum Hör-, Seh- und Geruchsvermögen der Rinder zusammen und verknüpfte die Informationen gleich mit praktischen Tipps für den Arbeitsalltag. Wo können wir im Stall und beim direkten Umgang mit den Tieren mehr Rücksicht nehmen? Wie lassen sich die Arbeitsprozesse für die Landwirte und die Mitarbeiter besser gestalten?
Auch hier war Stressvermeidung die wichtigste Grundlage bei der Arbeit mit den Tieren. „Rinder sind keine Kuscheltiere“, ihnen sollte mit Respekt und der passenden Individualdistanz, keinesfalls aber mit Angst oder Ungeduld, begegnet werden. Die Möglichkeit zur Kommunikation und zum ruhigem Handling ist so am ehesten gegeben. Rinder sind Fluchttiere, die sich am sichersten in der Gruppen- oder Herdenstruktur fühlen. Eine Absonderung bedeutet dabei immer Stress, dem man sensibel und ruhig begegnen sollte.
Rinder hören deutlich besser als Menschen
Das Gehör nimmt bei Rindern eine überragende Rolle ein, da es Defizite des Sehvermögens ausgleichen muss. Rinder haben im Infra- und Ultraschallbereich ein viel besseres Gehör als der Mensch. So sind besonders die hohen Töne, die das menschliche Ohr schon nicht mehr wahrnimmt, für das Tier noch gut hörbar und oftmals sehr unangenehm bis schmerzhaft. Darunter fallen besonders die hohen metallischen, elektronischen, hydraulischen und pneumatischen Geräusche der Fressgitter, Scharniere, Tore, Vakuumpumpen, undichter zischender Leitungen, Transformatoren, Melksysteme und Klauenstände, um nur einige Beispiele zu nennen.
Sehen können Rinder fast in Rundumsicht, allerdings nur mit 30-prozentiger Sehschärfe des Menschen. Das Rind umgibt ein Sehfeld von 330 Grad. Blinde Flecken befinden sich direkt vor dem Flotzmaul und hinter dem Tier. Die seitliche Anordnung der Augen ermöglicht nur eine Überschneidung des Sehfeldes im Frontbereich, wo dann ein räumliches, also dreidimensionales, Sehen möglich ist. Seitlich haben die Tiere keine Tiefenwahrnehmung und können Größe und Geschwindigkeiten nur schwer einschätzen. Ihre Einzelbildwahrnehmung ist viel sensibler, so ist flackerndes Licht für sie eher sichtbar und kann sich negativ auf das Wohlbefinden auswirken. Die Anpassung an sich verändernde Lichtverhältnisse ist hingegen 5- bis 6-mal langsamer als beim Menschen. Das heißt, wechseln Rinder vom Hellen ins Dunkle oder andersherum, sehen sie erstmal etwa 5 Sekunden nichts von der Umgebung. Die Farbe Rot ist für Rinder nicht sichtbar, leicht wahrnehmbar hingegen sind Grün/Gelb, Blau-Violett und Graustufen, wobei die Farbe Gelb als Signalfarbe einen besonderen Stellenwert einnimmt. Da es zunächst irritierend auf die Tiere wirkt, sollte man dies bei der Farbwahl der Stallausrüstung sowie der Arbeitskleidung und -materialien berücksichtigen.
Rinder entnehmen dem, was sie riechen, viele Informationen. Stress und Nervosität werden so genau wahrgenommen, ob von den Artgenossen oder dem Menschen.
Gestaltung der Haltungsumgebung
Was gilt es also zu bedenken? Schnelle Bewegungen bringen Unruhe, eigene Nervosität und Stress werden von den Tieren sofort wahrgenommen. Die Haltungsumwelt der Tiere und die Umsetzung von Einzelmaßnahmen sind bestmöglich von hohen und quietschenden Geräuschen metallischer, elektronischer, hydraulischer und pneumatischer Einrichtungen zu befreien. Es lohnt sich, auf hohe Qualität von elektrischen Bauteilen bei der Beleuchtung zu achten, um auch hier störende Geräusche und Lichtflackern zu vermeiden. Mindestens für den Melk- und Behandlungsbereich und die Laufgänge empfiehlt sich unbedingt eine gleichmäßige Beleuchtung. Dabei spielt die Intensität eine untergeordnete Rolle. Schlagartige Beleuchtungswechsel sind nachteiliger als eine dunklere Ausleuchtung oder Dämmerungsverhältnisse zu beurteilen. Lauf- und Treibgänge sollten einen matten und nicht reflektierenden, pfützenfreien Untergrund aufweisen, um Blendung durch grelles Licht vorzubeugen.
Die Details der Vorträge, die Möglichkeit zur Diskussion und die Praxisübungen haben die Vorerfahrungen und Vorkenntnisse der Teilnehmer ergänzt und sie sicher den einen oder anderen Hinweis mit auf die eigenen Betriebe nehmen lassen. Sind viele dieser potentiellen Stressoren schon im Vorhinein abgestellt und geht der Mensch routinierter, zielgerichteter und bewusster auf die Wahrnehmung und die Instinkte der Tiere ein, kann man auch ruhiger, sicherer und letztlich auch zügiger mit seinen Tieren arbeiten. Unerwünschte Reaktionen der Tiere lassen sich so besser vorhersehen, verstehen und oftmals vermeiden.
Autoren:
Natalie Wagner, Landesamt für Ländliche Entwicklung, Landwirtschaft und Flurneuordnung Brandenburg
Patricia Lößner, Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft und Fischerei Mecklenburg-Vorpommern
Janna Fritz, Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein